02.05.2019 -
Alle Welt spricht über den Brexit. Aber kaum einer über die Wachstumsperspektiven Chinas. Dabei sind die viel wichtiger für die Weltwirtschaft.
Die Welt schaut auf eine kleine Insel in der Nordsee und ihre Versuche, aus einer Wirtschaftsgemeinschaft auszutreten. Aber ist diese Aufmerksamkeit wirklich gerechtfertigt? Dazu muss man sich nur das bescheidene Gewicht der britischen Wirtschaft vor Augen führen. Seit die Briten sich vor knapp drei Jahren für den Ausstieg entschieden haben, ist Chinas Wirtschaft um 2.400 Mrd. US-Dollar gewachsen – ein Betrag, der fast so gross ist wie das gesamte britische Bruttoinlandsprodukt. Chinas Entwicklung bleibt also relevant für das Wohl und Wehe der Weltwirtschaft.
Wir haben derzeit folgendes, differenziertes Bild der chinesischen Wirtschaft. Einerseits schreitet der Umbau der chinesischen Volkswirtschaft voran, die Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft schafft die Basis zukünftigen Wachstums. In China haben sich Technologieunternehmen von Weltrang entwickelt. Die restriktivere Kreditvergabe im Jahr 2018 hat insbesondere bei Industrieunternehmen Bremsspuren hinterlassen. Andererseits ist Chinas Wachstum immer noch stark von zusätzlichen Krediten abhängig, wie der erneute Stimulus Anfang dieses Jahres gezeigt hat.
Der Politik des „moderaten Wohlstands für alle“, die kurzfristig für gesellschaftliche Stabilität sorgen soll, weil die Bevölkerung auf materiellen Fortschritt fokussiert bleibt, stehen immer restriktivere Eingriffe in die private Freiheit gegenüber. Allerdings dürfte der wirtschaftliche Ehrgeiz der Chinesen dafür sorgen, dass von einer relativ zum Westen niedrigeren Basis noch grosse Wachstumsschritte erzielt werden können – auch, wenn die Wachstumsraten dem Reifegrad der Volkswirtschaft entsprechend zukünftig geringer ausfallen werden.
Bei der Diskussion um die stark gestiegene Verschuldung in China sollte neben den Staatsunternehmen auch der Immobilienmarkt im Blick behalten werden. Nachdem die Immobilienpreise in den meisten Städten seit 2015 deutlich anzogen, fiel die Entwicklung in 2018 moderater aus. Ein Preiseinbruch hat allerdings nicht stattgefunden, und dies ist unseres Erachtens auf breiter Front auch zukünftig nicht zu erwarten. Schätzungsweise zwei Drittel des Vermögens der Privathaushalte sind in Immobilien gebunden und 90 Prozent aller chinesischen Familien besitzen Wohneigentum.
Für die Regierung ist es von entscheidender Bedeutung, dass es zu keinem umfangreichen Wertverlust am Immobilienmarkt kommt. Denn das würde die soziale Stabilität und damit ihre politische Legitimität gefährden. Hierzu stehen eine Reihe von Instrumenten zur Verfügung wie das Absenken der Hypothekenzinssätze, eine Lockerung der Kaufrestriktionen und geringere Eigenkapitalanforderungen. Auch beim Immobilienmarkt gilt ähnlich wie in anderen Bereichen der Wirtschaft: Die chinesische Regierung scheint noch „Spielraum“ zu haben.
Das neben China relevanteste Schwellenland ist Indien. Das Land zählte mit einem Wirtschaftswachstum von 7,2 Prozent im vergangenen Jahr zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften weltweit. Das Bruttoinlandsprodukt beträgt mittlerweile 2.700 Mrd. US-Dollar und hat damit ein „britisches Niveau“ erreicht.
Unter der amtierenden Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP) hat Premierminister Narendra Modi seit 2014 eine Reihe von Strukturreformen implementiert. So wurden eine einheitliche Mehrwertsteuer eingeführt, ein neues Insolvenzgesetz verabschiedet, die staatlichen Banken rekapitalisiert, die Beschränkungen für ausländische Portfolioinvestitionen gelockert, Subventionen gekürzt und eine Bargeldreform zur Schwarzgeld- und Korruptionsbekämpfung durchgeführt. Diese Massnahmen haben massgeblich dazu beigetragen, dass sich die Geschäftstätigkeit für Unternehmen verbessert hat und der formelle Sektor gestärkt wurde.
Da der überwiegende Teil der arbeitenden Bevölkerung in Indien im informellen Sektor beschäftigt ist, fliessen diese Daten nicht in die offiziellen Statistiken mit ein. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, ein besonderes Augenmerk auf die Entwicklung einzelner Unternehmen zu werfen, um sich ein abschliessendes Urteil über die makroökonomische Verfassung des Landes zu bilden. In Summe zeigt sich ein Bild strukturell positiver Trends.
Die detaillierte Betrachtung der Situation in China und Indien zeigt, dass ein allzu einseitiger Fokus auf die Risiken dafür sorgen kann, dass Investoren Chancen verpassen, die sich durch das Wachstum aufstrebender Volkswirtschaften ergeben. Diese Chancen können auch deutlich relevanter sein als die Risiken in Europa. Für langfristige Anleger gilt es deshalb, nicht dem Trugschluss zu unterliegen, die Entwicklungen „vor der eigenen Haustür“ seien mit dem Erfolg oder Misserfolg globaler Konzerne gleichzusetzen.