24.06.2019 -
Die Wirtschaft wächst nur noch moderat und die Zinsen bleiben sehr lange bei null, oder sogar deutlich darunter. Anleger sollten sich mit dieser Situation anfreunden. Sie muss nicht zu ihrem Nachteil sein.
Die Zuversicht, dass die Zinsen irgendwann dann doch mal wieder steigen, dürfte selbst bei den hoffnungslosen Optimisten verflogen sein. Weltweit rauschen die Anleiherenditen runter. Mit Minus 0,3 Prozent notierte die deutsche Bundesanleihe so tief wie niemals zuvor. Unser anlagestrategisches Weltbild, das von dauerhaft niedrigen Zinsen ausgeht, galt früher unter Anlageprofis noch als Avantgarde. Heute sind wir im Mainstream angekommen.
Weltweit treten die Notenbanker auf die Zinsbremse. Die noch im Jahr 2018 avisierten drei Zinserhöhungen der US-Notenbank Federal Reserve (Fed) fallen wohl aus, der Markt preist mittlerweile Zinssenkungen ein. Zehnjährige US-Staatsanleihen rentieren bei etwas mehr als zwei Prozent. Das ist fast ein Prozentpunkt weniger als noch vor fünf Jahren. „Wenn die Leitzinsen das nächste Mal die effektiv niedrigere Schwelle erreichen – und es wird erfahrungsgemäss ein nächstes Mal geben – wird es keine Überraschung sein“, erklärte Anfang Juni Jerome Powell. So möchte der Fed-Präsident die Bevölkerung wohl daran erinnern, dass die Zinsen auch schon mal deutlich unter null Prozent fallen können.
In Europa rechnet ohnehin niemand mehr mit steigenden Zinsen. Oder wie EZB-Präsident Mario Draghi es Mitte Juni dieses Jahres formulierte: „Es scheint, dass die zunehmende Bedrohung durch Protektionismus, die geopolitischen Faktoren, die die Konjunkturaussichten der Eurozone belasten, einen Anstieg des Zinsniveaus ausschliessen würden.“ In der Eurozone bleiben die Zinsen bis (mindestens) 2020 bei null Prozent und darunter. Die geopolitischen und ökonomischen Perspektiven der Eurozone schliessen eine Zinserhöhung aus. Wenige Tage später legte Draghi nach: „In den nächsten Wochen wird der EZB-Rat überlegen, wie unsere Instrumente entsprechend der Grösse des Risikos für die Preisstabilität angepasst werden können.” Anleihekäufe, Zinssenkungen, weitere Massnahmen: „Wir werden alle Flexibilität innerhalb unseres Mandats nutzen, um unseren Auftrag zu erfüllen”.
Der Schwund der Inflation beunruhigt die Notenbanker weltweit nachhaltig. Die Erwartungen des Marktes brachen zuletzt aus einem gewohnten, „sicher verankerten“ Korridor aus. Mit Blick auf fünf Jahre lagen sie in Europa zwischen 1,5 Prozent und 1,75 Prozent. Davon kann jetzt keine Rede mehr sein. Der Abstand zu dem (selbst gestecktem) Inflationsziel der Notenbanker von zwei Prozent ist beachtlich.
In Europa bleiben die Zinsen niedrig, zumindest so lange der Euro Bestand hat. Darauf weisen wir seit Jahren immer wieder hin. Die Währung überfordert die Wirtschaft vieler Länder, die Auswirkungen zeigen sich besonders deutlich in Italien. Dort möchte eine populistische Regierung das Haushaltsdefizit weiter ausdehnen. Sie droht mit Mini-Bots, Staatsanleihen ohne Laufzeitbegrenzung und Verzinsung, dazu geeignet, offene Rechnungen zu begleichen. Die Mini-Bots sollen den Druck auf die EU und EZB im Defizitstreit erhöhen. Oder wie es Thomas Mayer, Gründer des Flossbach von Storch Research Institute in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung formulierte: „Die italienische Regierung befindet sich heute in einer wesentlich stärkeren Position. Mit der Parallelwährung könnte sie die EZB zur Stützung ihrer Staatsschuld zwingen. Denn würde der Staat so viele Mini-Bots ausgeben, dass sie gegenüber dem Euro stark abwerten, könnte er mangels Steuereinnahmen in Euro möglicherweise seine Euro-Schulden nicht mehr begleichen. Italien würde der Staatsbankrott drohen. Da dies der Politik des Erhalts des Euro um jeden Preis zuwiderlaufen würde, müsste die EZB als Kreditgeber der letzten Instanz einspringen.“
Wer wissen möchte, wie sich die Geldpolitik der Mehrzahl der Industrieländer in der Zukunft entwickeln dürfte, der schaut in die Schweiz. Thomas Jordan, Chef der Schweizerischen Nationalbank fasste die Lage treffend zusammen: „Der Negativzins sowie unsere Bereitschaft, bei Bedarf am Devisenmarkt zu intervenieren, sind unverändert notwendig“. Das sagt wohl alles, in welche Richtung der Zinszug derzeit unterwegs ist.
Für Anleger bedeutet dieses Umfeld vor allem: Sie sollten investiert sein. Kasse bringt nichts – oder nur Verluste. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis die Banken die Negativzinsen an ihre Kunden weitergeben (müssen). Sparer sollten dann mit höheren Kontogebühren, Aufbewahrungsentgelten oder ganz neuen Wortschöpfungen rechnen.
Die vielen schlechten Nachrichten sollten dabei niemanden verschrecken. Etwa der Handelskonflikt zwischen den USA und China, der doch nur das Symptom eines weitaus grösseren Konfliktes ist. Hier geht es nicht um das Geschacher um ein paar Zölle, sondern um die Hegemonie unter den Weltmächten. China ist auf dem Weg, den USA die Führerschaft in Wirtschaft und Technologie streitig zu machen. Das will die USA verhindern – so lange wie möglich. Mit einem „Deal“ a la Trump dürfte dieser Konflikt kaum zu lösen sein. Das Thema dürfte uns daher noch lange beschäftigen. Hier geht es nicht um Jahre, sondern um Jahrzehnte. Und er könnte an Schärfe sogar noch zulegen. Dann ginge es vielleicht um Technologieboykotte, Investitionsschranken oder Reisebeschränkungen. Aber sollen wir deswegen unser Geld nicht mehr investieren?
Bei dieser Entscheidung hilft ein Blick auf die Fakten. Mit Blick auf den Aktienmarkt stellen wir uns vor allem drei Fragen. Was ist relevant? Was ist tatsächlich prognostizierbar? Und was ist bereits eingepreist? Mit Konjunkturprognosen halten wir uns zurück. Selbst Nobelpreisträger versagen regelmässig beim Versuch, den genauen Zeitpunkt einer Rezession vorauszusagen. Klar ist: Der Handelskonflikt zeigt erste Spuren beim Wachstum, vor allem die Unsicherheit der Unternehmen steigt. Aber was bedeutet das für einen langfristigen, global diversifizierten Anleger? Ist eine konjunkturelle Abkühlung (deren Zeitpunkt sich nicht treffsicher prognostizieren lässt) für die Unternehmen, an denen ich beteiligt bin, in fünf Jahren tatsächlich relevant – oder erinnert sich 2024 vielleicht keiner mehr an die Ängste aus dem Jahr 2019, weil sich Gewinne und Geschäftsperspektive langfristig sehr positiv entwickelt haben?
Wenn wir über die Wahrscheinlichkeit einer Rezession sprechen, dann rückt vor allem Europa in den Fokus. Wenn China eine „Erkältung“ und die USA einen „Schnupfen“ haben, leidet Europa unter „Fieberschüben“. Aktuell steht Europa für handlungsunfähige oder populistische Politiker und Unternehmen, deren Wettbewerbsfähigkeit sinkt. Vor allem in Deutschland und Italien sinken die Wachstumsprognosen. Für viele einzelne Unternehmen ist das eine beunruhigende Situation. Für uns zählt aber die aggregierte Situation der globalen Weltwirtschaft – konsequent runtergebrochen auf die einzelnen Geschäftsmodelle, in die wir investiert sind. Da ist es eben nicht relevant, wenn in einzelnen Regionen der Welt die Wirtschaft schrumpft. Zumindest wenn man langfristig in global aufgestellte Unternehmen investiert, die entweder sehr wachstumsstark sind oder deren Geschäftsmodelle robust sind.
Für Aktien spricht, dass die Bewertung in den vergangenen 30 Jahren kaum gestiegen ist. Während Immobilien, Anleihen Kunstwerke, Uhren – und in was man sonst noch alles investieren kann – deutlich teurer geworden sind, liegt das Kurs-Gewinn-Verhältnis beispielsweise des US-Aktienindex S&P 500 noch auf dem Niveau der achtziger Jahre.
Zuletzt sind Aktien sogar noch günstiger geworden. Seit Anfang 2018 legte der S&P 500 etwa um 13 Prozent zu. Die Gewinne stiegen aber stärker als die Kurse. Mit Blick auf die Bewertungen der in den nächsten 12 Monaten erwarteten Gewinne ist der Index sogar 13 Prozent günstiger geworden. Ganz anders entwickelte sich übrigens der Dax. Hier entwickelten sich die Gewinne weitaus schlechter. Der Dax ist trotz niedrigerem Niveau genauso teuer geblieben, was übrigens auch für eine globale Streuung des Vermögens (auch nach Währungsräumen) spricht.
Die zu erwartende Gewinnrendite von Aktien liegt deutlich über den Kupons sicherer Anleihen. Eine Gewinnrendite von sechs Prozent bedeutet: Wer sich mit 10.000 Euro an den Unternehmen beteiligt und damit den Anspruch auf 600 Euro Gewinn pro Jahr erwirbt, der hat diesen Anspruch auch dann, wenn der Kurs einmal steigt oder fällt. Zumindest wenn die Gewinne über die Jahre (nur) stabil bleiben. Selbst wenn sich die Gewinne halbieren würden, läge die Gewinnrendite immer noch bei drei Prozent. Weit mehr als mit sicheren Anleihekupons drin wären und für langfristige Anleger eine gute Absicherung gegen die Kursverluste von morgen. Oder frei nach Warren Buffet: Gute Unternehmen werden über die Zeit Geld verdienen, davon profitiert auch der Aktienkurs. Für langfristige Anleger besteht das grösste Risiko deshalb darin, nicht investiert zu sein.
Das gilt übrigens auch für Anleihen. Zumindest für flexible Anleger, die alle Ertragschancen dieser Anlageklasse nutzen. Wir können uns etwa vorstellen, dass die Zinsstrukturkurven auch in Deutschland flacher werden. Wie in den USA, Japan oder Grossbritannien. Dann läge die Rendite bei zehnjährigen deutschen Bundesanleihen vielleicht bei Minus 0,5 Prozent. Bei einem Anleiheportfolio spräche dann einiges für eine lange Duration . Obwohl die meisten Investoren noch nicht soweit denken und mit Blick auf ihre vermeintliche „Risikoaversion“ eine kurze (oder sogar negative) Duration in den vergangenen Monaten bevorzugten. Wenn die Renditen am langen Ende sinken, steigen die Kurse bei langlaufenden Anleihen. Nicht umsonst haben wir in einigen unserer Fonds schon vor längerer Zeit in hundertjährige Anleihen investiert.
Nur sehr agile Anleger können mit Anleihen unseres Erachtens noch eine nennenswerte Rendite erzielen. Anleiheinvestoren müssen mittlerweile deutlich aktiver sein als Aktienanleger. Ausserdem müssen sie kostengünstig investieren. Beide Punkte dürften private Kleinanleger vor vermeintlich unlösbare Probleme stellen.
Für Banken wäre eine noch flachere Zinskurve eine existentiell bedrohliche Nachricht. Ihr Brot und Butter-Geschäft, die Zinsmarge, bräche vollends weg. Auch das spricht eher für sinkende Zinsen in der Eurozone, denn eine veritable Bankenkrise möchte die EZB in jedem Falle verhindern. Auch dieses Beispiel zeigt: Vergessen Sie die Zinswende. Denken Sie lieber an das Zinsende – mit allen möglichen Konsequenzen.