28.10.2021 -
Die Preise steigen rasant. Eigentlich ein Fall für die Notenbanken, die den Wert des Geldes stabil halten sollen. Aber ihre Möglichkeiten sind begrenzt.
Die Inflation ist zurück. Im September stiegen die Verbraucherpreise in Deutschland so stark wie seit 29 Jahren nicht mehr. Die Erzeugerpreise lagen im August sogar um zwölf Prozent über dem Vorjahreswert, was den höchsten Anstieg seit Dezember 1974 bedeutet. In der Eurozone fiel die Inflationsrate zuletzt mit 3,4 Prozent etwas niedriger aus, weil sich der deutsche Mehrwertsteuereffekt hier nicht so stark auswirkt. Sie markierte damit aber dennoch den höchsten Stand seit September 2008. In den USA stiegen die Verbraucherpreise im Vergleich zum Vorjahr bereits vier Monate in Folge um mindestens fünf Prozent. Selbst die Kerninflationsrate ohne Energie und Nahrungsmittel betrug vier Prozent – ein Niveau, das zuletzt 1991 erreicht wurde.
Die Ursachen für diesen Inflationsschub liegen in einer Kombination aus starker Nachfrage und einem pandemiebedingt knappen Angebot vieler Güter sowie einem deutlichen Anstieg der Energie- und Strompreise. Vor allem in den USA haben grosszügige staatliche Hilfsprogramme viel Geld in die Taschen beziehungsweise auf die Konten der Verbraucher gespült. Dieser Corona-Schub spiegelt sich auch im starken Anstieg der Geldmenge wider. Seit Februar 2020 ist die Geldmenge M2 (Bargeld + Einlagen von Nichtbanken bei Kreditinstituten + Geldmarktfonds von Privatanlegern) bis Ende September 2021 um 34 Prozent gestiegen, was einer jährlichen Wachstumsrate von 22 Prozent entspricht.
Nachdem die Mittel aus Vorsichtsgründen zunächst gespart wurden, flossen sie zunehmend in den Konsum (Autos, Elektronik, Textilien, Reisen etc.). Inflation ruft naturgemäss die der Geldwertstabilität verpflichteten Notenbanken auf den Plan. Lange Zeit lag diese unter der Zielmarke der Notenbanken, die alles unternommen haben, um endlich die gewünschten zwei Prozent zu erreichen.
Nun ist der Geist aus der Flasche und es dürfte schwer sein, ihn wieder einzufangen. Zinserhöhungen, das traditionelle Rezept in früheren Inflationsphasen, sind heute ein riskantes Unterfangen. Angesichts der hohen Staatsverschuldung und des vor allem in der Eurozone immer noch fragilen, postpandemischen Aufschwungs sind auf absehbare Zeit allenfalls noch homöopathische Zinsdosen vertretbar.
Deshalb beschwichtigen die Notenbanken, insbesondere die Europäische Zentralbank (EZB), die Gemüter mit dem Narrativ, dass es sich nur um einen temporären Inflationsbuckel handle, der mit dem Abklingen der Lieferengpässe im nächsten Jahr beendet sein wird. Sollte sich die Inflation aber als hartnäckig erweisen, wird diese Erzählung an Glaubwürdigkeit verlieren.
US-Notenbankchef Jerome Powell geht zwar inzwischen davon aus, dass die derzeitige Situation länger anhalten könnte als zunächst gedacht, doch auch er erwartet, dass sich die Lage wieder entspanne, sobald sich die Flaschenhälse in Produktion und Logistik aufgelöst haben. Deshalb rechne er nicht damit, dass der aktuelle Inflationsanstieg einen Regimewechsel einleite, fügte aber hinzu, dass es Handlungsbedarf gäbe, sollte die Fed erkennen, dass sich die Inflationserwartungen spürbar erhöhen.
Wie wenig treffsicher die Inflationsprognosen der Notenbanken zuletzt waren, verdeutlicht ein Vergleich der zu Jahresbeginn gemachten Inflationsprognosen für das Jahr 2021 mit den im September angepassten Erwartungen (vgl. Grafik oben). Natürlich ist es im Verlauf einer Pandemie besonders schwierig, die zukünftige Preisentwicklung zu prognostizieren. Das hält die EZB aber nicht davon ab, punktgenaue Inflationserwartungen für die kommenden Jahre zu veröffentlichen. Für 2022 prognostiziert sie eine allgemeine Preissteigerung von 1,7 Prozent und für 2023 von 1,5 Prozent. Ein kurzer Blick auf die Historie verdeutlicht die geringe Trefferquote (vgl. Grafik unten).
Die Prognosen dürften vor allem dazu dienen, die Inflationserwartungen der Menschen in die gewünschte Richtung zu lenken oder, wie es im Jargon der Notenbanken heißt, zu verankern. Man muss kein Zyniker sein, um diese Werte als Wunschdenken zu bezeichnen. Hohe Inflationserwartungen würden die Notenbanken unter Handlungsdruck setzen und könnten auch die Anleiherenditen in die Höhe schnellen lassen. Angesichts des fragilen Aufschwungs und der hohen Verschuldung einiger Euroländer wäre dies vor allem für die Eurozone eine große Belastung.
Deshalb möchte man so lange wie möglich an der Tiefzinspolitik festhalten und rechtfertigt diese mit niedrigen Inflationserwartungen für die nächsten Jahre. Egal, wie das Wetter heute ist, morgen wird es schön – so wie der Hotelportier im deutschen Dreiteiler „Die Familie Semmeling“ das anhaltend schlechte Bergwetter mit der Prognose „tomorrow nice weather“ zu entschärfen versucht, bis er schließlich das Barometer verstellt, um die Gäste bei Laune zu halten.
Es mutet schon fast bizarr an, dass die Zentralbank eine Erhöhung der Inflation auf die Zielmarke von zwei Prozent anstrebt, obwohl die Inflation schon deutlich darüber liegt. Theoretisch könnte die EZB das Spiel unendlich fortsetzen und jedes Jahr neue Schönwetterprognosen für die Folgejahre abgeben. Praktisch stößt diese Strategie aber an ihre Grenzen, wenn die Menschen der Sache nicht mehr trauen und ihre Inflationserwartungen und ihr Verhalten an die Realität anpassen.