04.07.2018 -
Die Börse ist ein rationaler Ort – und Investoren treffen ihre Entscheidung stets auf Grundlage von Fakten. Falsch! Tatsächlich zählen andere Dinge. Das gilt heute mehr denn je.
Wer Wirtschaftswissenschaften studiert, lernt allerlei Theorien. Dass Wirtschaftsakteure, also wir alle, uns immer rational verhalten zum Beispiel. Weil wir sämtliche Informationen auswerten und uns erst dann ein Urteil bilden – ganz rational. Wenn dem so ist, dann wären die Börsen, an denen alle rationalen Anleger samt ihren rationalen Urteilen zusammenkommen, höchst effizient. Die dort zustande kommenden Kurse wären immer, das heisst zu jedem Zeitpunkt, ein Spiegel der Realität. Was für ein Quatsch!
Wir alle (zumindest ausserhalb des Elfenbeinturms) wissen, dass die reale Welt sich von der konstruierten unterscheidet. Niemand verhält sich stets rational. Niemand kann alle Informationen auswerten, selbst wenn er sie hätte. Er stützt sich vielmehr auf seine Erfahrungen und Erwartungen. Kurzum: Er vertraut häufiger seinem Bauch als dem Kopf.
Kein Mensch würde Lotto spielen, wenn er sich ernsthaft mit Wahrscheinlichkeitsrechnung auseinandersetzte. Der Lottospieler spielt Lotto, weil er auf den „Vermischtes-Seiten“ seiner Tageszeitung Woche für Woche die Geschichte eines Glückspilzes liest, der den Jackpot geknackt hat und nicht mehr weiss, wohin mit den vielen Millionen. Warum, zum Teufel, sollte es ihm nicht genauso ergehen?!
Was ich damit sagen will: Es sind die Geschichten, die wichtig sind – und die unser Verhalten beeinflussen. Das gilt auch und insbesondere für Wirtschaftsthemen, inklusive der Börse. Der Nobelpreisträger Robert Shiller spricht von „narrativer Ökonomie“. Narrative, also Geschichten, verbreiten sich heute rasend schnell. Über das Internet, die sozialen Medien, über alle Ländergrenzen hinweg. Sie entwickeln sich weiter, werden fortgesponnen von unzähligen Geschichtenerzählern. Realität und Dichtung vermischen sich. Was ist überhaupt wahr – und was falsch?
Narrative können sich wie Viren verbreiten, so wie bei einer „Epidemie“. Je weiter die „Epidemie“ fortgeschritten, umso grösser ist der Einfluss des Narrativs auf die Realität, ganz gleich, ob die Ursprungsgeschichte wahr oder falsch gewesen ist.
Nehmen wir das Beispiel Kryptowährungen, eines der viel beachteten Themen dieser Tage. Auf den rasanten Anstieg folgte der deutliche Rücksetzer, folgte die Erholung. Die Medien überschlagen sich mit Berichten zu diesem Thema, insbesondere dem Bitcoin. Nicht zuletzt wegen seiner mysteriösen Geschichte – dem Umstand, dass der Erfinder ein Phantom zu sein scheint. So etwas hilft bei der Legendenbildung. Die sozialen Netzwerke quillen über mit Stellungnahmen, Einschätzungen und vermeintlich belastbaren Prognosen.
Auch wir verfolgen die Entwicklung des Bitcoin sehr aufmerksam. Meine Kollegen des Flossbach von Storch Research Institute etwa haben untersucht, ob es einen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit der Berichterstattung in den Medien und der Preisentwicklung des Bitcoin gibt. Andersherum: Ob das Narrativ der vielen Geschichtenerzähler die Realität tatsächlich beeinflusst. Sie ahnen es: Ja, die Kollegen konnten einen Zusammenhang nachweisen. Aber was bedeutet das?
Jeder, der möchte, kann heute dank der sozialen Medien ein Narrativ in die Welt setzen. Je nachdem, wie gut die Geschichte verpackt ist, wird sie auf ein dankbares Publikum treffen, wenngleich unzählige Geschichten um dessen Gunst konkurrieren. Das Problem für Anleger ist, dass es vermutlich niemals so schwierig war, zwischen den wahren und den falschen Geschichten zu unterscheiden. Eine falsche Geschichte klingt nicht selten gut, weil sich der Geschichtenerzähler umso mehr Mühe mit der Verpackung gemacht hat, eine wahre dagegen oft schlecht.
Anleger tun gut daran, sich dessen bewusst zu sein. Es wäre ein erster Schritt, sich vor den Folgen einer Epidemie zu schützen.
Dieser Beitrag ist als Kolumne in der Rheinischen Post erschienen.
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